Eine überlange Operationsdauer kann die Zahlung von Schmerzensgeld begründen, wenn sich keine nachvollziehbare Erklärung dafür finden lässt. Das hat das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main entschieden.

Gericht bewertet außergewöhnlich lange Operationsdauer als Behandlungsfehler

Der Fall
Im November 2005 wurde der 1,80 m große und 110 Kg schwere Kläger stationär aufgenommen. Die Diagnosen lauteten: Relative Spinalkanalstenose LWK3/4, Instabilität LWK4/5 und LWK 5/SWK 1, Bandscheibenvorfall präsakral links medio-lateral. Am 21.11.2005 führte der Direktor der Klinik für Neurochirurgie den Eingriff durch. Die Operation erfolgte in Bauchlage. Sie begann um 9:20 Uhr und endete um 21:15 Uhr – Lagerung 12 Stunden, OP-Dauer 11 Stunden. Unter dem Mikroskop erfolgte eine bilaterale Flavektomie und Hemilaminektomie LWK 4, die Nervenwurzeln L4 und L5 wurden beidseits freigelegt und mittels Foramintomie dekomprimiert. Das Bandscheibenfach LWK 4/5 wurde von beiden Seiten ausgehöhlt, distrahiert und mit Cages stabilisiert. Identisch wurde in der Etage darunter vorgegangen. Abschließend erfolgte die transpedikuläre Fixierung mittels Schrauben-Stab-System durch den Unfallchirurgen.

Postoperativ zeigte sich am 24.11.2005 eine Quadrizepsparese und eine Hüftbeugerparese beidseits. Der am 15.12.2005 erhobene elektroneurografische und elektromyografische Befund sprach für eine ausgeprägte aber inkomplette Läsion des Nervus femoralis. Der Operateur führte die Nervschädigung auf den lang anhaltenden Druck der mehrstündigen Operation zurück.

Bei der Entlassung zur Rehabilitation war der Kläger weitgehend steh- und gehunfähig. Es lagen sensomotorische Störungen beider Oberschenkel vor. Nach Abschluss der Rehabilitation am 25.01.2006 war der Kläger in der Lage, mit zwei Unterarmgehstützen bis zu 600 m zu gehen. Seine Arbeitstätigkeit nahm der Kläger nicht wieder auf. Er bezieht eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Er behauptet, die Operation sei nicht lege artis durchgeführt worden. Die extrem lange Operationsdauer und nicht fachgerechte Lagerung hätten die Läsion des Nervus femoralis verursacht. 

Die Entscheidung
Das Gericht sprach dem Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 50.000 € zu und begründete seine Entscheidung wie folgt: Der Umstand, dass die Operation im Streitfall ohne medizinische Gründe 11 statt 6 Stunden dauerte, erfüllt die Voraussetzungen eines Behandlungsfehlers. Diese Operationsdauer liegt außerhalb des Zulässigen. Sie ist durch die Umstände der Operation nicht erklärbar und deshalb zu beanstanden. Es gibt keine Erklärung dafür, warum die Operation bei mikrochirurgischem Vorgehen und dem Einsatz einer Hochgeschwindigkeitsfräse mit Diamantschleifkörper 11 Stunden dauerte.

Der Operateur gilt als sehr erfahrener Chirurg. Schwierigkeiten können zwar auftreten, wenn der Zugang klein ist. Bei der Operationsnarbe des Klägers von 16 cm ist der Zugang jedoch als mittelgroß bis klein zu bezeichnen. Eine Adipositas, wie beim Kläger vorliegend, liegt bei fast allen Patienten vor, die sich einer Wirbelsäulenversteifung unterziehen. Es ist zwar so, dass ein sehr kräftiges Muskelkorsett und eine sehr starke Knochenstruktur eine Operation verlängern können, aber nicht auf 11 Stunden. Der Primärschaden, die beidseitige Läsion des Nervus femoralis, ist auf die fehlerhafte überlange Operationsdauer in Bauchlage zurückzuführen. Für die Beeinträchtigungen, die auf die Nervenschädigung zurückzuführen sind, erachtet der Senat ein Schmerzensgeld in Höhe von 50.000 € für angemessen und ausreichend (OLG Frankfurt, Urteil vom 03.05.2016, Az.: 8 U 224/12).

Fazit
1. Dauert die Operation eines Patienten mit Rückenbeschwerden, bei der eine Nukleotomie L4/5, L5/S1 und eine Implantation von Fusions-Cages mit Implantationsfixateur interne L4 bis S1 beidseitig vorgenommen wird, 11 Stunden, obwohl mikrochirurgisch und mit dem Einsatz einer Hochgeschwindigkeitsfräse mit Diamantschleifkörper vorgegangen wurde, so liegt diese Operationsdauer außerhalb des Zulässigen; sie ist durch die Umstände der Operation nicht erklärbar und deshalb zu beanstanden.

2. Das gilt insbesondere dann, wenn der behandelnde Anästhesist bei einer Versteifung in 2 Segmenten von einer Operationsdauer von 6 Stunden ausgegangen ist und sich darüber hinaus aus dem Operationsbericht keine Gründe für eine 11 Stunden dauernde Operation erkennen lassen.

3. Erleidet der ca. 40 jährige Patient aufgrund der überlangen Operationsdauer einen Lagerungsschaden in Form einer Quadrizepsparese und einer Hüftbeugerparese beidseits, war er bei seiner Entlassung aus dem Krankenhaus für ca. 5 Wochen steh- und gehunfähig und darüber hinaus über einen Zeitraum von fast 2 Jahren in seiner Bewegungsfähigkeit stark eingeschränkt und ist er auf Dauer zu 100% erwerbsgemindert, so erscheint ein Schmerzensgeld von 50.000 € angemessen, aber auch ausreichend.

Wichtiger Hinweis
Das Gericht betonte in seinen Urteilsgründen, dass es durchaus passieren kann, dass eine solche Operation 11 statt 6 Stunden dauert – aber eben nur unter sehr schwierigen Verhältnissen, z. B., wenn doppelt so viele Schrauben eingebracht werden müssen oder die Nervenhaut reißt. Es kommt auch auf die Narbenverhältnisse an und ob Voroperationen (Vernarbungen) stattgefunden haben. Da im Streitfall keine Vernarbungen vorlagen und der Operationsbericht keine Komplikationen beschrieb, konnte der Sachverständige keine medizinischen Gründe für die Länge der Operation mit 11 Stunden angeben. Bei seiner Expertise konnte er sich nicht auf Leitlinien, Richtlinien oder Empfehlungen stützen, weil Operationszeiten nicht festgelegt sind. Dies versteht sich, als insoweit immer der konkrete Einzelfall zu betrachten ist.